„Wer war diese Stimme?“

… Es war vor vielen, vielen Jahren in einem Dorf im peruanischen Regenwald. Nachts, während der Zeremonie eines würdigen alten Schamanen im Dorf Tamshiyacu am Amazonas hörte ich diesen Mann singen. Es war eine dieser stockdunklen Dschungelnächte, wo man die Hand nicht vor den Augen sieht, mondlos finster, auch wegen der Wolken. Es gab weder Kerzenlicht, noch eine Lampe.

„Wer um Himmels Willen singt da?“

Camp-Don-Pedro

Das Camp Don Pedro in der Dämmerung.

Die ganze Gruppe unserer Mitreisenden wollte am nächsten Morgen nur das Eine wissen, unbedingt und wirklich sofort: Wer war diese Stimme?

Nicht nur mich hatten diese Gesänge verzaubert, alle waren gleichermaßen betört. Wer ist dieser Mann? Woher kommt er? Kann ich ihn persönlich kennen lernen?

Abends, vor dem nächtlichen Ritual, hatten die Männer aus dem Dorf neben der Tür zum Zeremonialraum ihre Gummistiefel und Macheten abgestellt. Als wir am Morgen erwachten, waren alle Gummistiefel und Macheten weg, die Männer waren nach der Zeremonie noch nachts alle nach Hause gegangen.

Er heißt Don Pedro, erfahren ich, Don Pedro Guerra Gonzales. Er wohnt mit seiner Familie, seiner Frau und seinen 8 Kindern im Dorf.

Er sei einer der ganz wenigen Curanderos der Gegend, vielleicht der Einzige, der den klassischen Icaro-Gesang noch beherrscht.

„Was ist das denn, Icaro-Gesang?“

Heute weiß ich, Icaros nennen sie jene spirituellen Lieder, die während einer Behandlung oder einer nächtlichen Zeremonie gesungen werden. Ein Meister des Icaro-Gesanges ist jemand,  der während einer Zeremonie ausschließlich Icaros singt, also nicht nur schöne Lieder oder Singsang, oder die Icaros vom Nachbarn, nur die eigenen Icaros, nur die wirklich eigenen. Ein junger Curandero hatte früher angeblich davon vielleicht zwanzig, ein alter erfahrener Curandero besaß – so erzählt man – bis zu vierzig Icaros. Die Tradition befindet sich im Wandel. Viele Curandero haben jetzt vielleicht, wenn überhaupt, nur mehr zwei oder drei eigene Icaros, die anderen Gesänge sind einfach nur Lieder.

Ich suche also nach Don Pedros Haus in Tamshiyacu. Ich erinnere mich noch gut daran, seine Tochter spielte mit einem zahmen grünen Vogel, der selbstbewusst am Lehmboden spazieren ging. Don Pedro zeigt mir seine exklusiven Schnitzereien, ich kaufe eine handgeschnitzte Pfeife, geeignet, Mapacho zu rauchen. Ein kleines Kunstwerk. Dieser Mann hat viele Talente denke ich, nie sah ich zuvor diese Qualität der traditionellen Holzschnitzerei.

„Ja und die Lieder, dürfen wir von den Icaros in Europa eine CD produzieren lassen? Jaaa?“

Die Radiostation des Dorfes hat ein kleines Tonstudio, ausreichend, um die Icaros aufzunehmen. Don Pedro singt, die Hunde bellen, die Kinder plaudern, auch das ist im Hintergrund zu hören. Alles was ich von dieser Reise mitnahm, hatte auf einer CD Platz. Doch welch ein Schatz! (Diese CD, „Amazonische Heilgesänge – Don Pedro Guerra Gonzales singt Icaros“, gibt es immer noch auf Don Pedros Webseite zu erwerben.)

In der Folge kam Don Pedro nach Europa, das war unser Wunsch. Wir besuchten ein Tonstudio, um erneut diese Lieder, die Icaros aufzunehmen. Die Qualität der Aufnahme sollte jetzt besser werden.

Don Pedro schritt langsam in den kalten kahlen Käfig des betonierten Tonstudios. Er setzte sich und begann mit seiner dunklen Stimme einen melancholischen Icaro zu singen. Die Techniker hatten bald feuchte Augen. Don Pedro sang weiter. Die Techniker starrten ihn an und weinten. Zuletzt erfahre ich, sie hatten vor Ergriffenheit vergessen die Aufnahmetaste zu drücken.

Don Pedro sagt über den Icaro-Gesang: „Das sind Lieder, die mir aus der geistigen Welt geschenkt wurden. In den drei Jahren meiner Ausbildung zum Curandero, wurde mir Icaro für Icaro mit der Melodie gegeben. Ich habe sie weder komponiert noch gedichtet. Ich kann sie auch nicht vergessen, sie wurden mir tief, tief eingeprägt, Melodie wie Text. Ihr Zweck ist genau festgelegt. Sie sind ein zentrales Werkzeug meiner Behandlungen. Wenn ein Patient in schwerer Notlage ist, bekomme ich manchmal neue Icaros geschenkt, ja, das kommt vor.“

Ich erfahre, dass Don Pedro im Dorf auch kleine Kinder mit Icaro behandelt, die Durchfall haben, oder einen Schock erlitten haben. Eine positive Wirkung ist sofort zu erwarten. Bei der Behandlung raucht er rituellen Tabak, was wichtig ist zu erwähnen. Ohne Rauch geht gar nichts.

Ich selbst war 2015 mit einer schwer beeinträchtigten Freundin im Camp, die eine Tumornachbehandlung suchte. Sie bekam täglich frische Medizin aus dem Regenwald, mit besonderer antiviraler Ausrichtung. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der Don Pedro eine Zeremonie speziell für sie ausrichtete. Wie immer vor solchen Zeremonie kamen Leute aus dem Dorf und suchten sich einen Platz im Raum.

Meine Freundin durfte keinerlei Medizin nehmen, die einen Brechreiz verursachen hätten können, wegen der noch frischen OP-Narben.

Don Pedro begab sich in eine ultratiefe Versenkung. Dann sang er Icaros, die ich ihn nie zuvor hatte singen hören. Wo war er wirklich, als er sang? Woher nahm er diese Icaros? Ich war ja überzeugt, ich würde jeden seiner Icaro bereits gut kennen.

Don Pedro sang volle zwei Stunden diese hoch melodischen Gesänge mit vielen Strophen in indianischen Sprachen, die er nie gelernt hatte.

Es war sehr still im Raum nach dieser Zeremonie. Niemand sprach ein Wort. Schweigend, wissend dass ich Zeugin eines Ereignisses aus einer anderen Welt wurde, suchte ich in der Dunkelheit meine kleine Hütte.

Meine Freundin die ja nüchtern teilnahm, sagte, es wäre die stärkste Zeremonie ihres Lebens gewesen. Ob es der Icaro-Gesang war, oder die Pflanzen aus dem Regenwald, wir wissen es nicht. Sie war in allerbester körperlicher und seelischer Verfassung, als wir zurück nach Europa fuhren.

Danke Don Pedro!

Margret Fischbacher